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18
Aug
2005

Nach der Maus ist vor der Maus


Für gewöhnlich gehöre ich nicht zu der Sorte Menschen die von Zeiten schwärmen als man Fett noch mit U schrieb und die Pellkartoffeln mit den blanken Fingernägeln aus dem gefrorenem Ackerboden kratzte um anschließend 150 km zu Fuß zur Schule zu laufen, nur damit der Lehrer einem zur Begrüßung satt eins mit dem Rohrstock geben konnte.
In der Regel trauere ich den längst vergangenen Zeiten eher weniger nach. Zu groß sind dann doch die neuzeitlich Verlockungen der Moderne. Gab es damals Internet? Nein. Hat uns jemals ein Elternteil gratis mit Kondomen versorgt, um zu verhindern dass man schwanger bzw. als Vater in spe nach Hause kam? Nö. Weder Spaßbad noch Multiplexkinos waren erfunden. Wurde man beim Rauchen erwischt, konnte man selbst noch im fortgeschrittenen Alter von 18 Jahren damit rechnen sich eine Backpfeife einzufangen.
Scheiß Zeiten damals. Hart wie trocken Brot und kalt wie sibirische Winter. An Fernsehfreien Nachmittagen, davon gab es übrigens sehr viele, hing man also in Baumwipfeln ab oder unternahm, sofern man einen etwas weiter entfernten Ort erreichen wollte, eine Radtour. Wenn es denn Fahrräder gab, war ja nicht selbstverständlich. Damals.

Eigentlich hat mich mein letzter Eintrag dazu gebracht mich an eine Jugend zu erinnern, die Rückblickend wirkt wie eine Zeit aus einem stalinistischen Gulag. Denn rückblickend stelle ich grade fest, dass die steigende Anzahl an TV-Sendern, zumindest bei mir, nur einen Effekt hervor bringt: Eine steigende Anzahl an TV-Sendungen die man wirklich scheiße finden kann. Analog dazu steigt auch die Anzahl der Personen, die sich darüber beschweren dass immer mehr Mist im Fernsehen ausgestrahlt wird. Eine Personengruppe die Begriffe wie "Unterschichtenfernsehen" und "Blöd-TV" kreiert.
Die gleiche Personengruppe ist es aber auch, die sich darüber beschwert dass nun ein großer deutscher Verlag eine große Anzahl an verfügbaren TV-Sendern unter seine Fuchtel bringen will. Plötzlich wird vom "Monopol der Meinungsbildung" gesprochen. Und davon das dass Niveau stark gefährdet sei, von wegen es könnte nun absolut im Keller landen.
So wirklich versteh ich das jetzt nicht. Damals, als Galileo noch Die Sendung mit der Maus hieß und anstatt täglich auf Pro7, Sonntags morgens in der ARD lief, da hatte auch keiner etwas daran auszusetzen das es nur 3 Kanäle gab. Es gab noch nicht einmal ein Murren oder Knurren wegen der Tatsache das 2/3 der verfügbaren TV-Sender staatlich kontrolliert waren. Damals war man froh, dass man aus mediendienststaatsvertraglicher Gnade ein "Drittes Programm" konsumieren durfte.
Free-TV? Fehlanzeige! Wer TV schauen wollte, musste sich dem rigorosen Pay-TV-System GEZ unterwerfen. Ein staatlich initiiertes System zum Abkassieren von so genannten "Gebühren", welches einem schon zum Verbrecher machte, wenn man auch nur im Besitz eines rundfunkempfangtauglichen Rundfunkempfanggerätes war. Da der Empfang von Rundfunk prinzipiell schon mit einfachsten technischen Mitteln möglich war (terrestischer Rundfunk über Antenne), war schon der Besitz von einfachem Draht und wenigen elektronischen Bauteilen höchst riskant.
Land auf, Land ab waren die gelben Busse der Deutschen Post bekannt und gefürchtet. VW-Busse ausgestattet mit ausfahrbaren Antennen und voll gestopft mit Hightech vom Feinstem, vom Bundesamt für Post und Telekommunikation einzig und alleine zum Zwecke der Ermittelung und Verfolgung von so genannten Schwarz-Sehern ausgesandt. Damals wusste Papa Staat noch wer wann wo welchen TV-Sender empfangen konnte. Radio BBC oder BFBS hörte man, wenn denn überhaupt, heimlich unter der Bettdecke. Zu groß die Angst vor Entdeckung. Die Nachbarn hätten es ja unweigerlich mitbekommen wenn da einer der gelben VW-Busse mit seiner voll ausgefahrenen Antenne 3 Tage vor der Haustür geparkt hätte. Wer wollte das schon riskieren?
Schwarz-Seher, Vaterlandsverräter, subversive Elemente, womöglich Terroristen mit Auslandskontakte in unserer Nachbarschaft? Niemals! Bei uns in der Straße doch nicht. Und wenn dem so wäre, die müsste aufpassen dass ihre Dachantenne nicht am nächsten Tag beim Schrott-Paule aufm LKW landet.

Heute haben wir Kabelanschluss mit nicht weniger als 35 Kanälen. Und wer mag, bekommt für knapp 50 Euro eine Satellitenschüssel und kann weitere 350 Kanäle empfangen. Berichte aus alle Herrenländer, ungefiltert und in unzähligen Sprachen. Dazu das fast grenzenlose Internet, 20 Zeitungen am Kiosk und schlachmichtot viele Radio-Sender.
Da muss sich eine KEK wirklich Sorgen um ein Meinungsmonopol machen, da muss doch das Kartellamt eingreifen. Top-Thema im Bundestag, direkt nach den Neuwahlen, Änderung des Mediendienststaatsvertrags, Neuregulierung der Pressefreiheit und Zuteilung der Senderfrequenzen.
Hat sich eigentlich mal jemand darüber beschwert das 70 oder 80% (?) der Pressemitteilungen von lediglich 3 großen Presseagenturen kommen? Nicht? Auch gut.

Oh du mein Orwellscher Staat.
Behüte mich und sage mir was ich konsumieren soll.
Schütze mich und verhindere dass ich die falschen Sender sehe.
Schicke wieder deine gelben VW-Busse aus, auf dass Pro7Sat1SpringerTV-Seher gebrandmarkt und ihre Häuser gemieden werden.
Helfe uns in der Not das Überangebot an frei konsumierbaren Informationen in uns rein zu schaufeln.
Denke für mich, denn ich fühl mich bald nicht mehr in der Lage dazu.

So, ich geh jetzt noch ein paar Pellkartoffeln mit den blanken Fingernägeln ausm gefrorenen Ackerboden kratzen.

 

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frau_floh - 18. Aug, 07:40

Da sieht man mal wieder, dass es auch seine Vorteile hat, Grenznah zu wohnen. Wir hatten damals 5! (in Worten: füneff) Programme: zu ARD, ZDF und BR noch manhöreundstaune ORF1 und ORF2.
Zum Glück waren es nicht mehr, denn damals gabs ja noch keine Fernbedienung und ich als Sklavin meines älteren Bruders war immer die Gearschte, die zum TV laufen und umschalten musste. Man stelle sich das heute bei über 50 Programmen vor ... die Kinder von heute wissen ja gar nicht, wie gut sie es haben.

Muh-Tiger - 18. Aug, 11:00

Ach ja ... wir konnten auch noch andere Kanäle empfangen. Holland 1+2 (oder wie die sich schimpften). Ausserdem kann ich mich wage daran erinnern, dass Zappen früher das Kinderturnen ersetzte. ARD-ZDF-3. Programm ... Lauter, leiser ... ARD-ZDF-3.Programm ... das hat fit gehalten.
frau_floh - 18. Aug, 11:05

Die Kinder heutzutage wissen ja gar nicht mehr, wie schwer wir es damals hatten.
Tag #7111

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